Selten lag ich mit meinen Erwartungen im Vorfeld einer Reise so daneben wie bei Sarajewo. Meine ursprüngliche Annahme, dass dies ein ruhiger Ort sei, erweist sich erst einmal als vollkommen falsch. Die Stadt – das Stadtzentrum – pulsiert geradezu. Touristen aus aller Welt, viele aus arabischen Ländern oder der Türkei und sogar aus China, bevölkern die Straßen und Plätze. Der morbide Charme der heruntergekommenen Stadt und die Faszination, die vom Aufeinandertreffen von Orient und Okzident ausgeht, ziehen offenbar viele in den Bann. Dabei sind die klimatischen Bedingungen in der Stadt jetzt im Hochsommer alles andere als angenehm, denn das Thermometer klettert schon mal gefährlich nahe bis 40 Grad und der Talkessel, in dem Sarajewo liegt, verhindert, dass frische Winde den Staub und die Abgase wegblasen.
Ein Reisebericht von Jörgen Klußmann
Neben voll verschleierten Frauen flanieren elegante Damen und Mädchen in schicker Garderobe oder in äußerst knappen Klamotten durch die Fußgängerzone. Gewichtig aussehende Männer mit dicken Armbanduhren schlendern lässig neben verhärmten Gestalten, die oftmals Veteranen des Balkan-Krieges sind. Alte Frauen mit Kopftuch – meist mittellose Kriegswitwen – betteln am Straßenrand um Almosen. Zwischen den Gesängen von Straßensängern erklingen Kirchenglocken und der Ruf des Muezzins zum Gebet. Die Gegensätze könnten kaum größer sein. Die Cafés sind schon am frühen Morgen mit Menschen bevölkert, die angeregt bei Kaffee und Zigaretten diskutieren (ich habe selten eine Stadt gesehen, in der so viel geraucht wird). Mein Apartment liegt mitten im Zentrum in einer kleinen Seitengasse und zu beiden Seiten befinden sich Cafés. Egal, zu welcher Tageszeit ich es verlasse oder wieder betrete, sind die Cafés voll besetzt. Dort trifft man sich und verbringt viel Zeit mit Freunden, Bekannten oder der Familie in herzlicher, lebendiger Atmosphäre. Die Stadt scheint nur nachts zur Ruhe zu kommen.
Ein ganz anderes Bild bietet sich, wenn man die Wohnviertel der Stadt betritt, die sich in die Berge hinauf erstrecken. Dort herrscht himmlische Ruhe, neben protzigen modernen Villen, stehen windschiefe, halbzerfallene Häuser. Dazwischen liegen verwilderte schöne Gärten mit kleinen Gemüsebeeten. Das wichtigste aber: Man kann deutlich durchatmen. Je höher man kommt, desto frischer wird die Luft. Die Stadt wird zum idyllischen Ort, der immer mehr dörflichen Charakter annimmt.
Doch auch das ist wieder nur eine Variante des vielfältigen Charakters der Stadt. 29 Jahre nach der Belagerung Sarajewos durch die bosnisch-serbische Armee ist die Erinnerung an die Gräuel dieser Zeit noch immer nicht verblasst. Überall erinnern kleine, private Museen an das fast vier Jahre andauernde Martyrium der Einwohner, die Belagerung Sarajewos. Dort, wo die Granaten der serbischen Artillerie einschlugen und Dutzende von Menschen töteten, sind die Namen der Opfer an Hauswänden zu lesen. An vielen Häusern sind noch die Einschusslöcher zu sehen. Der Wahnsinn der Balkankriege, der nach dem Tode des langjährigen Machthabers und Kriegshelden des zweiten Weltkriegs Tito zum Zusammenbruch Jugoslawiens führte, kostete allein in Sarajewo rund 11.000 Menschen das Leben, mehr als 56.000 wurden schwer verletzt. Insgesamt starben auf dem ehemaligen Staatsgebiet Jugoslawiens zwischen 100.000 bis 200.000 Menschen, genaue Zahlen liegen nicht vor. Am schlimmsten wüteten die Kämpfe in Bosnien und Herzegowina, denn dort war Bevölkerung am stärksten durchmischt. Dort fanden die Nationalisten auf allen Seiten am leichtesten und schnellsten ihre Opfer. Sogenannte „ethnische Säuberungen“ wurden zum Kennzeichen des Krieges.
Auch die Feierlichkeiten zum Gedenken an das Massaker von Srebrenica vor 30 Jahren, als serbische Nationalisten mehr als 8000 bosnische Männer und Jungen ermordeten, erinnern daran. Auch in Sarajewo gedenkt man den Opfern mit großen Plakaten und zahlreichen Veranstaltungen. Das der 1995 unter Vermittlung der USA in Dayton zustande gekommene Frieden auch heute noch äußerst fragil ist, zeigte sich Anfang des Jahres, als der Präsident des serbischen Teils von Bosnien-Herzegowina, Milorad Dodik mit dem Anschluss an die Republik Serbien drohte, worauf er vom Staatsgericht des Landes zu einem Jahr Haft und einem sechsjährigen Amtsausführungsverbot verurteilt wurde. Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig und kann vermutlich auch nicht durchgesetzt werden. Denn für diesen Fall hat der serbische Präsident Vučić, der im eigenen Land selbst unter Druck steht, mit einer militärischen Intervention gedroht. Beide, Dodik und Vučić werden von Russlands Präsident Putin unterstützt. Trotz aller Bemühungen von Seiten der internationalen Gemeinschaft gerät die fragile Konstruktion des souveränen Staates, der aus zwei Entitäten – der Republika Srpska und der Föderation von Bosnien und Herzegowina – besteht, somit immer mehr in Schieflage.
Vordergründig sind die Menschen in Sarajewo dennoch fest entschlossen, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Lachen und Lebensfreude scheinen die Angst vor einem neuen Krieg und die stille Trauer über die Opfer des vorangegangen Krieges zu überwiegen. Wobei kein Widerspruch zwischen beidem zu bestehen scheint. Die bosnische Seele ist anscheinend einigermaßen gut ausbalanciert. Die lange Geschichte der osmanischen Besatzung mit all ihrem Leid hat das Land lange vor dem letzten Krieg tief gespalten und andererseits eine einzigartige Kulturlandschaft geschaffen. Die geistige Tiefe, die daraus erwachsen ist, findet ihren Ausdruck vor allem in der Kunst, der Musik und der Literatur. Ob es die großartigen Kompositionen des Musikers Goran Bregovic oder die filmischen Meisterwerke eines Emir Kusturica oder die wunderbaren Bücher des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andric sind – Sie alle verbindet die besondere Fähigkeit, Tragik mit Humor und Absurdes mit Vernunft so zu verbinden, dass etwas völlig Einzigartiges entsteht: Eine Melange, der sich kaum jemand entziehen kann.
Bleibt zu hoffen, dass sich die Vernunft zumindest in Sachen Stabilität und Frieden am Ende durchsetzt.

- Arthur Röben
- Vorsitzender Ausschuss Öffentlichkeitsarbeit
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