Es ist Reformationstag. Zeit, darüber nachzudenken, was es heißt, evangelisch zu sein, zu glauben, evangelisch zu leben. Das ist wichtig: Nicht, um eine konfessionalistische Nabelschau zu betreiben. Sondern, weil es helfen kann, um klarzukommen mit dem ganz normalen Wahnsinn dieser Welt. Mit der schrecklichen Schönheit meines wundervollen und endlichen Lebens. Mit dem Geheimnis, wer ich bin, und der Frage, wie ich leben soll.
Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, auf die Frage zu antworten. Etwa: „Evangelisch heißt nicht katholisch.“ Doch das wäre eine bloße Identität durch Abgrenzung. Es übersieht, dass wir ökumenisch viel, viel mehr gemeinsam haben, als uns voneinander trennt. Sigmund Freud spricht hier vom „Narzissmus der kleinen Differenz“. Man schafft Gemeinschaft, indem man sich von anderen abgrenzt, die einem eigentlich nahestehen. Bayern vs. Rheinländer, Kölner vs. Düsseldorfer, Protestanten vs. Katholiken. Zu einer reifen Persönlichkeit gehört es aber, dass sie um ihre eigene Schönheit weiß, ohne die anderer abzuwerten. Und dass sie Gemeinsames wertschätzen kann.
Oder: Evangelischsein wird durch dogmatische Formeln definiert. Wie das vierfache Solus:
Solus Christus – sola scriptura – sola gratia – sola fide. Also die Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben in Christus gemäß der Schrift. Das sind zentrale reformatorische Leitgedanken. Ebenso wie etwa der Gedanke des allgemeinen Priestertums aller Getauften. Sie sind wichtig, um den eigenen Glauben zu verstehen und zu durchdenken. Doch damit meinen eigenen Glauben zu beschreiben, wäre ungefähr so, als wollte ich ein Liebesgedicht allein mithilfe eines Grammatikbuchs verfassen. Kann man versuchen, kommt meist nur nicht so gut rüber.
Oder man erzählt die Geschichte davon, wie sich die Erkenntnis evangelischer Freiheit Bahn brach. Von dem Mönch Martin Luther, wie er in seinem Studierzimmer seine Zweifel besiegt und das Geschenk der Gnade entdeckt. Wie er Thesen wider den gottlosen Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlägt und auf dem Reichstag zu Worms seinen Glauben vor Kaiser und Fürsten bekennt. Da steckt viel Leidenschaft, Herzblut und Wahrheit drin. Auch wenn man sich vor falschen Heroisierungen hüten muss.
Ich möchte heute mit Ihnen einen anderen Weg gehen und einem alten Bekenntnissatz folgen. Genauer gesagt dem Urgebet des Volkes Israel. Das ist wichtig. Weil die Wahrheit des Evangeliums viel älter ist als die Geschichte der Reformation. Selbst als die Geschichte der ersten Christinnen und Christen. Als Christen – gleich ob evangelisch oder katholisch – haben wir eine verdankte Existenz. Wir sind mit hineingenommen in den bleibenden Bund Gottes mit seinem Volk.
Das Bekenntnis trägt seinen Namen nach den ersten hebräischen Worten: Schma Israel. Höre Israel. Es sind die Worte, die ein religiöser Jude, eine Jüdin jeden Morgen und jeden Abend betet. An jedem Festtag. Und wenn er oder sie stirbt, sind es die letzten Worte, die er oder sie spricht oder ihm/ihr ins Ohr geflüstert werden.
Als Jesus nach dem höchsten Gebot gefragt wird, antwortet er als frommer Jude mit diesem Gebet. Und verbindet es mit dem anderen altisraelischen Gebot der Nächstenliebe.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Das Schma Israel. Es steht im 5. Mose 6 an einer besonderen Stelle, gleich nach den Zehn Geboten. In einem kurzen Doppelsatz fasst es alle Gebote zusammen – mit folgender Gebrauchsanleitung.
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr alleine. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Ein paar Gedanken zu dem alten Bekenntnis – und was es bedeutet für unser Evangelischsein heute, mitten in einer verrückten Welt.
1. Hören
Damit fängt es an. Mit Hören. Nicht mit Reden. Nicht mit Erkennen. Nicht mit Tun. Sondern mit Hören. Der Glaube kommt aus dem Hören. (Röm 10,17) Und wer hören will, muss schweigen. Gott begegnet uns in seinem Wort und in der Stille. Das ist heilsam fremd in einer Zeit, in der wir permanent auf Bildschirme starren. Wir sind als Menschen eigentlich zutiefst dialogische Wesen. Zum Gespräch geboren. Zum Gespräch mit unseren Mitmenschen. Aber vor allem zum Gespräch mit Gott. „Hören“ meint dabei mehr als nur ein akustisches Hinhören. Es geht darum, zu lauschen, mich zu fokussieren. Völlig konzentriert, ganz Ohr zu sein: „Inmitten all des Lärms und der Unruhe, die dich umgibt. Werd‘ still. Konzentrier dich. Höre! Egal, was andere über dich denken oder du selbst von dir hältst. Egal, wie verrückt die Welt spielt oder wie chaotisch dein eigenes Leben ist. Hör auf das, was Gott dir sagt.“
Denn es gibt Wahrheiten – Beziehungswahrheiten –, die wir uns eben nicht selber sagen können. Wie in der Liebe – „Ich liebe dich!“ Wie vor Gericht – „Du bist frei!“ So auch im Glauben. Das ist es, was Gott dir sagt: „Ich habe dich geliebt, ehe du warst. Ich habe dich geschaffen. Ein freier, wundervoller, einmaliger Mensch. Ich schütze, bewahre, segne dich, so lange du bist – damit du selbst ein Segen für andere bist. Darum lebe in meinen Geboten. Sie schützen deine Freiheit und die aller anderen.“
Hören. Als evangelische Kirche verstehen wir uns als Kirche des Wortes, oder genauer des Hörens. Wir sind eine Hör-Gemeinschaft. Teil einer 3000 Jahre alten Hoffnungsbewegung. Älter als die Reformation. Älter als die ersten christlichen Gemeinden. Wir leben aus der guten Botschaft, dass Gott mitten unter uns gegenwärtig ist. Dass die Liebe stärker ist als der Tod. Dass Egoismus, Hass und Gewalt am Ende nicht siegen werden. Darum: „Höre, Israel!“
2. Gott
Das ist die Kernaussage des ganzen Bekenntnisses: Gott alleine ist Gott. „Der Herr ist unser Gott. Der Herr alleine.“ Auch das klingt fremd – in einer Zeit, in der viele Menschen mit Glaube, Gott nichts mehr anfangen können. „Ich bin weder evangelisch noch katholisch noch sonst irgendwas. Ich bin normal.“
Doch die Frage nach Gott ist heute vielleicht dringlicher denn je. Dazu muss man übersetzen, was Gott heißt. Gott, das heißt nach Martin Luther, jemanden zu haben, von dem du alles Gute erwarten kannst. Der dir beisteht, wenn alle anderen dich verlassen. Der dich in seinen Händen hält, auch wenn dir dein eigenes Leben entgleitet. Der dir Licht, Hoffnung, Zukunft schenkt, selbst wenn die ganze Welt verrücktspielt. Das ist nichts, was ich selbst machen kann oder mir ein anderer Mensch geben könnte. Auch nicht alles Geld der Welt. Nicht Schönheit, Klugheit, Macht, Stärke oder Reichtum. So attraktiv das alles sein mag. Nichts von all dem macht mich frei. Gibt meiner Seele Frieden. Im Gegenteil: Die Sorge um meine Schönheit, Klugheit, Macht wird mich letztlich auffressen. Weil all das vergänglich ist. Die Zeit, das Alter, die Motten, der Rost werden es aufzehren. Deshalb ist es wichtig, dass wir nichts davon vergöttern oder anbeten. Oder unser Herz daran hängen.
Deshalb schärft das alte Bekenntnis das so nachdrücklich ein. „Der Herr ist unser Gott. Der Herr alleine.“ Das ist die wichtigste Unterscheidung im Leben überhaupt: von Gott und Mensch. Von Schöpfer und Geschöpf. Sie bewahrt uns davor, uns von anderen abhängig zu machen. Und auch davor, uns selbst und andere zu überfordern: Wir retten nicht die Welt, nicht unsere Seele, nicht unser Leben. Das alles ist Gottes Sache. Es reicht, dass wir uns liebevoll um das kümmern, was uns anvertraut ist und in unserer Macht steht. Tag für Tag. Und ansonsten getrost auf Gott vertrauen. Dafür genau steht der Glaube an Jesus Christus: sich in Liebe anderen zuwenden – im tiefen Vertrauen, dass Gott das eigene Leben hält.
3. Die Liebe zur Liebe
„Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“
Das ist im Grunde das, worum es im Leben geht. Das eine Gebot, in dem alle anderen Gebote enthalten sind. „Liebe – und tu, was du willst“ – so drückt es Augustin aus.
Wenn Gott die eine, allumfassende Liebe ist, dann geht es hier also um die „Liebe zur Liebe“ selbst. Diese Liebe zu Gott als der einen, allumfassende Liebe selbst schließt dann alles andere ein:
– die Liebe zu mir selbst als einem wunderbaren Geschöpf Gottes, mit all seinen Macken und Kanten,
– die Liebe zu meinen Mitmenschen, ebenso mit Macken und Kanten gesegnet wie ich. Egal, wie sie aussehen, wen sie lieben, woher sie stammen, was sie glauben, sie sind ebenso wie ich wunderbare Kinder Gottes.
– die Liebe zur ganzen Schöpfung, die wir bewahren und nicht zerstören sollen.
Die Liebe zu Gott als der Liebe selbst:
Sie macht dankbar – für das Leben, das mir geschenkt ist.
Sie macht frei – weil ich Gott nichts beweisen kann noch beweisen muss.
Sie macht mitmenschlich – weil alle anderen genauso irrend, suchend, liebesbedürftig sind wie ich.
Und die Liebe zu der einen schöpferischen Liebe Gottes vermittelt eine Ehrfurcht vor allem, was lebt. Einen achtsamen Umgang mit der Würde eines jeden Geschöpfs.
Von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all meiner Kraft soll ich Gott als die Liebe lieben. Und so selbst zum Liebenden werden, zum Ebenbild Gottes. Das haben die Reformatoren mit den Begriffen „Gnade“ und „Glaube“ umschrieben. Das unbegreifliche Geschenk, von Gott unbedingt, einfach so geliebt zu sein. Und das tiefe Vertrauen, aus dieser Liebe zu leben. Sich eben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft von ihr bestimmen zu lassen.
4. Die Vergesslichkeit meiner Seele
Im Alltag geht mir das Wissen um Gott als die eine allumfassende Liebe aber immer wieder verloren.
– Ich schaue Nachrichten – und sehe korrupte Autokraten wie Trump, Putin oder Xi Jingping,
die ihre Macht hemmungslos missbrauchen und andere unterdrücken.
– Ich merke, wie ich selbst immer wieder ängstlich um mich und meine kleine Sorgenwelt kreise.
– Ich lasse mich blenden von dem, was andere alles haben, können oder machen: Meine Kinder! Mein Haus! Mein Auto! Mein Urlaub! Meine Follower!
Und meine kleine, zerstreute Seele vergisst vor lauter Bildern, Nachrichten und Sorgen allzu schnell all das mit der „unbedingten Liebe Gottes“. Und dann das mit der Liebe zu meinen Mitmenschen. Und zu der wundervollen Schöpfung. Und am Ende vergesse ich auch die Liebe zu mir selbst. Weil niemand mehr da ist, der sie mir ins Ohr flüstert. Oder vielleicht ist doch noch jemand da, aber ich vergesse einfach hinzuhören.
Das ist urmenschlich. Die Vergesslichkeit unserer kleinen egozentrischen Seelen. Im digitalen Zeitalter haben nur der Lärm der Zeit und die Zerstreuung noch zugenommen. Und die Anzahl der Apps, die um Millisekunden meiner Aufmerksamkeit konkurrieren. Wir konsumieren uns zu Tode.
Darum die dringende Handlungsempfehlung am Ende des Bekenntnisses:
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Ja, ich glaube, es ist wichtig, sich an diese gute Botschaft von Gottes Liebe zu erinnern. Immer wieder. Morgens, wenn ich aufstehe. Abends, wenn ich mich schlafen lege. Mit kleinen Zeichen im Alltag.
Ich bin geliebt. Unbedingt. Wunderschön geschaffen. Frei. Und ich bin berufen, andere zu lieben. So wie Christus es getan hat. Bis am Ende einmal die Liebe Gottes sein wird alles in allem. Das heißt für mich, evangelisch zu leben und zu glauben. Gut, wenn der Reformationstag uns daran erinnert.
Theologische Impulse (180) von Präses Dr. Thorsten Latzel
Bildnachweis: © CC-BY-SA-3.0/Hans Lachmann
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