Düsseldorf. Aus Anlass des bundesweiten Vorlesetages am 21. November berichtet Präses Dr. Thorsten Latzel, leitender Geistlicher der Evangelischen Kirche im Rheinland, von eigenen prägenden Erfahrungen: „Unsere Mutter hat uns viel vorgelesen, etwa aus der Kinderbibel am Küchentisch. Das war für uns der Einstieg in neue Welten.“ Lesen sei der Schlüssel für Bildung, Weltoffenheit und gesellschaftliche Teilhabe. Die biblischen Geschichten vermittelten Lebensmut, Vertrauen und Hoffnung. Präses Latzel liest selbst am Vorlesetag Grundschulkindern vor.
Ehrenamtlich engagiert Präses Dr. Thorsten Latzel sich als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bibelgesellschaft und Vorstandsvorsitzender der Hermann-Kunst-Stiftung für neutestamentliche Textforschung. „Ich liebe es, Geschichten zu hören, anderen vorzulesen oder vorgelesen zu bekommen. Erzählen schafft Gemeinschaft, lässt Ideen sprießen und öffnet neue Perspektiven.“ Beim Vorlesetag gehe es um ein Thema, das sowohl Bildungsgerechtigkeit als auch die Fähigkeit zu kritischer Reflexion berühre. Ganz bewusst sei die Reformation mit der Einrichtung allgemeiner Schulen einhergegangen, damit jeder Mensch selbst lesen und den Glauben verstehen könne.
3000-jährige Erzähl-, Lese- und Hoffnungsgemeinschaft
„Als Christinnen und Christen sind wir hineingenommen in eine 3000-jährige Erzähl-, Lese- und Hoffnungsgemeinschaft“, so Latzel. Die Bibel sei Quelle und Symbol dafür. „Nicht umsonst nennt man sie das Buch der Bücher. Sie umfasst Geschichten, Lieder, Briefe, Gebete aus über tausend Jahren. Sie erzählt von urmenschlichen Erfahrungen von Liebe, Verrat, Vertrauen, Einsamkeit, Freiheit – und davon, wie Gott dabei mitten unter uns heilvoll gegenwärtig ist. Wer Hoffnung sucht, wird hier fündig.“ Aber auch jenseits der Bibel sei Lesen unerlässlich: „Das Lesen von Geschichten an sich vermittelt eine tiefe Form von Wahrheit: erfahrene Wirklichkeit.“ Es gehe darum, sich in Gedanken, Gefühle und Geschicke anderer zu versetzen, neu Sprache für eigene Erfahrung zu finden und im Fremden den eigenen Fragen zu begegnen. „Lesen boostert Fantasie. Es trainiert meine Vorstellungskraft.“
Vorlesen und Lesen – aktive Bildungsarbeit
Darüber hinaus fördere Lesen die Bildung, was Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und eine lebendige Demokratie sei. Thorsten Latzel sagt aus eigener Lebenserfahrung: „Ich selbst bin Arbeiterkind und der Zugang zu Bildung war wirklich keine Selbstverständlichkeit. Wir mussten uns den damals Stück für Stück erschließen. Bücher waren für uns als Kinder der Einstieg ins Wissen und haben uns neue Welten eröffnet. Durch sie bin ich in Ägypten und Mesopotamien groß geworden. Ich bin mit Mose durch die Wüste gewandert, habe mit David gegen Löwen gekämpft, habe Jesus Christus Kranke heilen sehen – alles bei uns am Küchentisch. Ich habe wunderschöne Erinnerungen an die Momente, in denen unsere Mutter uns Geschwistern aus der Kinderbibel oder anderen Büchern vorgelesen hat. Gott hat durch Geschichten in mir Glauben und Lebensmut gewirkt. Durchs Vorlesen bin ich Pfarrer geworden.“
Kinder haben ein Recht auf Geschichten
Das Vorlesen sei aktive Bildungsarbeit in Familien, Schulen und in der Gemeinde. „Bücher können wortwörtlich Dummheit gefährden und Hoffnung schenken – das gilt besonders für die Bibel als eine Bibliothek unzähliger Hoffnungsgeschichten. Von daher kann ich alle Eltern, Großeltern, Geschwister, Lehrerinnen und Paten nur herzlich einladen: Lesen Sie vor! Kinder haben ein Recht auf Geschichten. Erzählen, vorlesen und selbst zu lesen sind ein zentraler Beitrag zu einer offenen, reflektierten und demokratischen Gesellschaft. Bildung und Hoffnung braucht es heute mehr denn je.“
