Neues Wehrdienstgesetz: „Jungen Menschen einen Raum eröffnen, in dem sie über ihre Unsicherheiten und Fragen sprechen können“

Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden bietet über die Landeskirchen Beratung rund um den neuen Wehrdienst an. Für die Evangelische Kirche im Rheinland ist Dr. Stefan Niewöhner Ansprechperson. Er ist der Beauftragte für Friedensbildungsarbeit und Beratung zum Thema Kriegsdienstverweigerung nach Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes in der rheinischen Kirche. Im Interview blickt er auf die Situation junger Menschen und zeigt auf, wie Beratende und Gemeinden sie und ihre Familie in ihren Fragen zum Wehrdienst begleiten können.

Dr. Stefan Niewöhner

Herr Dr. Niewöhner, warum bietet die Evangelische Kirche im Rheinland Beratung zu den Themen Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung an?
Dr. Stefan Niewöhner: Die aktuelle geopolitische Weltlage und die in Deutschland politisch geführte Diskussion um die Herstellung der Verteidigungsbereitschaft durch Aufrüstung führen bei jungen Menschen zu Fragen, die sich eine vorausgehende Generation nicht stellen musste. Die unmittelbare Ansprache junger Menschen mit der Verpflichtung einen Fragebogen auszufüllen und dort anzugeben, ob sie sich einen Dienst in der Bundeswehr vorstellen können,  verunsichert viele. Ratsuchende befinden sich auf dem Weg, ihre eigene Haltung zum Thema Wehrdienst zu finden und zu verstehen, welche Optionen ihnen offenstehen. Hier setzt unser Beratungsangebot an. In der friedensethischen Tradition des gerechten Friedens informieren wir über die neue Gesetzeslage und bieten jungen Menschen einen Reflexionsraum, in dem sie über ihre Unsicherheiten und ihre Fragen sprechen können.

Stichwort: Neuer Wehrdienst

Der Bundestag hat ein neues Gesetz zum Wehrdienst beschlossen, das am 1. Januar 2026 in Kraft tritt. Künftig erhalten alle 18-Jährigen einen Fragebogen per Post, mit dem ihre Motivation und Eignung für den Wehrdienst ermittelt werden soll. Männer müssen, Frauen können den Fragebogen ausfüllen. Beginnend mit dem Jahrgang 2008 soll es darüber hinaus ab Mitte 2027 für alle jungen Männer eine verpflichtende Musterung geben.
Darüber hinaus hat der Bundestag beschlossen, dass nicht nur der freiwillige Wehrdienst attraktiver gemacht werden soll, sondern auch die Freiwilligendienste. Denn: „Freiwilligendienste und Wehrpflicht sind zwei komplementäre Elemente einer zukünftigen Gesamtarchitektur gesellschaftlicher Relevanz“, heißt es in dem neuen Gesetz. Es wird die Zielmarke von 100.000 Freiwilligen pro Jahr genannt. Es ist vorgesehen, dass die jungen Menschen mit der Aufforderung zur Abgabe der Bereitschaftserklärung für einen Dienst in der Bundeswehr nicht nur Informationsmaterial der Streitkräfte, sondern auch für einen Freiwilligendienst erhalten können.

Was zeichnet die Beratung aus?
Niewöhner: Im Zentrum der Beratung steht die seelsorgerliche Begleitung der Ratsuchenden. Auch wenn die Beratung über die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung vermittelt wird, beraten wir ergebnisoffen. Ein junger Mensch mag gute Gründe für oder gegen einen freiwilligen Wehrdienst haben beziehungsweise für oder gegen eine Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen, wie es im Grundgesetz heißt. Das Gewissen ist der ureigenste Teil einer Person und ihrer Persönlichkeit. Deshalb nehmen in der Beratung die Gewissensbildung und das Finden einer eigenen Positionierung zu den Fragen von Krieg und Frieden viel Raum ein.

Wer kann sich beraten lassen?
Niewöhner: Beraten lassen können sich alle Menschen, die vor der Frage stehen, ob sie sich einen Wehrdienst vorstellen können. Überwiegend sind es junge Menschen, die sich an uns wenden. Wir werden aber auch von Menschen kontaktiert, die durch die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 nicht eingezogen wurden. Oder von ehemaligen Soldatinnen und Soldaten – sogenannten Reservist*innen –, bei denen sich die Sicht auf die Welt verändert hat. Sie suchen Beratung, weil sie den Kriegsdienst verweigern möchten. Darüber hinaus wenden sich viele Eltern an uns. Gerade bei ihnen nehme ich ein großes Bedürfnis danach wahr, sich mit jemandem in Ruhe über ihre Sorgen und Ängste auszutauschen. Dafür sind wir als Kirche da.

Wie können Gemeinden und Einrichtungen der Jugendarbeit junge Menschen und ihre Familien bei Fragen zum Wehrdienst begleiten?
Niewöhner: Ich empfehle allen Menschen, die vor Ort im Kontakt mit jungen Erwachsenen sind, sich darüber zu informieren, was auf diese nun zukommt. Denn wir sollten uns bewusst sein: Das Thema betrifft junge Menschen in grundsätzlichen und existenziellen Fragen ihres Lebens. Die Jugendarbeit ist in der Lage Räume zu eröffnen, in denen über die Frage „Wehrdienst – ja oder nein?“ gesprochen werden kann. Weiterhin kann sie Angebote zur Gewissensbildung gestalten. Gerne können Mitarbeitende auch auf das Beratungsangebot der EAK verweisen. Wer sich darüber hinaus vorstellen kann, selbst junge Menschen und ihre Familien zu den Themen Wehrdienst, Gewissensbildung und Kriegsdienstverweigerung im Beratungsnetzwerk der Evangelischen Kirche im Rheinland zu begleiten, kann sich qualifizieren lassen.

Welche Voraussetzungen müssen Interessierte dafür mitbringen?
Niewöhner: Wichtig sind Empathie und eine ergebnisoffene Haltung. Die Beratenden sollten Freude daran haben, junge Menschen in wichtigen Entscheidungen zu begleiten und Interesse haben an den Lebensfragen und Perspektiven junger Menschen. Kompetenzen in der Gesprächsführung sind hilfreich. Diese werden aber – wie alle anderen notwendigen Kompetenzen auch – in einem modularen Qualifizierungsprogramm vermittelt. Beratende entscheiden anschließend selbst, wann sie mit den Beratungen beginnen möchten, wie viele Beratungen sie übernehmen und in welcher Form – per E-Mail, Telefon oder Zoomkonferenz – sie beraten wollen. Wir freuen uns, wenn sich Menschen für diese kirchliche Seelsorgeaufgabe begeistern. Sie bietet die Möglichkeit, einen wertvollen Beitrag in unserer Gesellschaft zu leisten.

Beratende gesucht

Weitere Informationen zur Qualifizierung als Berater*in zu Wehrdienst, Gewissensbildung und Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz finden sich auf der Internetseite friedensbildung.ekir.de im Artikel Beratende gesucht. Die Internetseite bietet außerdem allgemeine Informationen zu den Themen Wehrdienst, Gewissensbildung und Kriegsdienstverweigerung. Junge Menschen oder ihre Angehörigen, die sich zu der Frage „Wehrdienst – ja oder nein?“ beraten lassen möchten, können sich über das Kontaktformular der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung an Berater*innen aus den Landeskirchen wenden.

Fachtag

Die Evangelische Kirche im Rheinland bietet darüber hinaus Anfang des Jahres zwei Fachtage an, an denen Basisinformationen zu den Themen Wehrdienst, Gewissensbildung und Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 GG vermittelt werden. Die Fachtage finden am 12. Januar in Bad Kreuznach (Anmeldung hier) beziehungsweise am 14. Januar in Düsseldorf (Anmeldung hier) in der Zeit von 10 bis 15 Uhr statt. Eingeladen sind Menschen, die vor Ort mit jungen Menschen arbeiten, zum Beispiel in der Gemeinde, in Schulen oder in der Jugendarbeit.

 

  • 05.12.2025
  • Simone Becker
  • epd-bild/Detlef Heese