Düsseldorf/Moers. Eine Gedenkstele auf dem Gelände des ehemaligen Evangelischen Schülerheims Martinstift in Moers erinnert seit heute Nachmittag an die Gewalttaten, denen Schüler Anfang der 1950er Jahre an diesem Ort ausgesetzt waren. „Wir waren die späten Opfer des von unserer Elterngeneration getragenen ,totalen Kriegs‘ eines mörderischen Regimes gegen jede Form von Mitmenschlichkeit“, sagte Dr. Gerhard Stärk, einer der Betroffenen, die die Aufarbeitung in Gang gesetzt hatten, in seiner Rede.
Die Stele an der heutigen Musikschule, Filder Straße 126, wurde in Gegenwart von Vertreter*innen aus Kirche, Diakonie und Stadtgesellschaft enthüllt. Die Aufarbeitungsstudie zum Martinstift sowie eine Ausarbeitung von Dr. Stärk sind über einen QR-Code an der Stele abrufbar. „Das Geschehene wurde von den damals Verantwortlichen, so nennt es die Studie, aktiv ,beschwiegen‘ und damit aus dem Bewusstsein verdrängt bzw. herausgehalten“, so der Moerser Superintendent Wolfram Syben. „Ebenfalls geschwiegen wurde in weiten Teilen der Erwachsenenwelt: Die unterrichtenden Lehrer, der zuständige Pfarrer und Konfirmator, die Schulleitung, der nachfolgende neue Leiter des Martinstifts, weite Teile der Elternschaft und die meisten der Mitarbeitenden – sie schwiegen.“ Syben äußerte die Hoffnung, dass der neue Gedenkort dazu beitrage, „dass wir gute Aufmerksamkeit und wirksamen Schutz gegen jede Form der sexualisierten Gewalt in unseren Verantwortungsbereichen schaffen“.
„Wer gedenken will, muss wissen wollen“
Die Stele sei „ein sichtbares Zeichen unseres Gedenkens auch an das Versagen unserer Kirche“, sagte Vizepräses Antje Menn, Beauftragte der rheinischen Kirchenleitung für den Themenbereich sexualisierte Gewalt. Und sie ergänzte: „Wer gedenken will, muss wissen wollen und das erlangte Wissen bewahren. Dazu brauchte es hier in Moers die wissenschaftliche Studie zur Aufarbeitung. Dazu braucht es heute in leider auch vielen anderen Fällen im Verantwortungsbereich unserer Landeskirche Aufarbeitung und Aufarbeitungsstudien.“ Menn zitierte den rheinischen Präses Dr. Thorsten Latzel mit dem Anspruch, dass diese Aufarbeitung nur unter Beteiligung der Betroffenen erfolgen könne. Und sie lenkte den Blick auf die kirchlichen Machtstrukturen: „Fragen und erforschen, damit wir heute und morgen Menschen, die sich uns in Gemeinden, Einrichtungen und Arbeitsbereichen anvertrauen, besser vor Gewalt und Machtmissbrauch schützen als in der Vergangenheit.“
Dank an die Betroffenen für ihren Mut
Kirsten Schwenke, Vorständin des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe – Diakonie RWL, wandte sich an die Betroffenen mit einem Dank für den Mut, „von Ihrer Geschichte zu erzählen. Ihr Reden hat das Schweigen gebrochen. Ihre Stimme gibt der Vergangenheit ein Gesicht und zwingt uns, die Wahrheit anzuerkennen. Wir hören Ihnen zu. Wir glauben Ihnen. Und wir stehen an Ihrer Seite.“ Der Gedenkort am Martinstift sei ein Zeichen dafür, dass ihr Leid nicht mehr verdrängt, sondern öffentlich anerkannt werde. Schwenke fuhr fort: „Wir haben fünf Dinge verstanden: erstens, dass Macht immer Grenzen braucht; zweitens, dass Kinder, Jugendliche und ihre Familien besonderen Schutz benötigen; drittens, dass Schweigen und Wegschauen Unrecht vergrößern; viertens, dass Betroffene ein Recht auf Gehör, Anerkennung, Unterstützung und Erinnerung haben; und fünftens, dass Führungskräfte und Institutionen Verantwortung tragen müssen – heute wie damals.“
Viele Jugendliche hätten psychologische Hilfe benötigt
„Eine Zuweisung von Schuld an die nun verantwortliche Generation verbietet sich“, erklärte Dr. Gerhard Stärk, ehemaliger Schüler des Martinstifts. „Aber viele unserer Kameraden hätten, wie unsere Recherchen ergaben, schon als Kinder bzw. Jugendliche psychologische und psychiatrische Hilfe benötigt, viele Stiftler blieben für ihr Leben traumatisiert.“ Stärk verwies auf einen Schulkameraden, der sich für die erfolgte Aufklärungsarbeit mit den Worten bedankt habe: „Mich macht froh, dass nicht ich in Moers total versagt habe, sondern dass ich in üble Umstände geraten war.“ Das zeige, so Stärk: „Aufklärung, Aufarbeitung und Erinnerung sind somit für die Opfer erlittenen Unrechts und auch für ihr persönliches Umfeld ganz wichtig – selbst wenn es schon lange Zeit zurückliegt.“ Der neue Gedenkort mache eine universelle Aufgabe deutlich: „Christlich handeln!“
Der Text der Gedenkstele im Wortlaut
Unter der Überschrift „Zur Erinnerung und Mahnung“ ist auf der Stele zu lesen: „Mehr als 80 Schüler im Alter zwischen 11 und 14 Jahren wurden hier in den Räumen des Evangelischen Schülerheims Martinstift zu Beginn der 1950er Jahre misshandelt und missbraucht. Bis es zur Beendigung der Gewalttaten des damaligen Leiters Johannes Keubler und zu seiner Verurteilung kam, blieben die Verantwortlichen der Diakonie und der Evangelischen Kirche untätig und sind auch danach ihrer Verantwortung für die ihnen anvertrauten Menschen nicht gerecht geworden. Als Diakonie und Kirche haben wir uns schuldig gemacht und die Schüler in ihrem schlimmen Leiden alleingelassen. Heute setzen wir uns für wirksamen Schutz und Aufarbeitung ein, damit solche furchtbare Gewaltausübung nicht wieder geschieht.“ Gezeichnet ist die Stele von der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, der Evangelischen Kirchengemeinde Moers, dem Kirchenkreis Moers und der Evangelischen Kirche im Rheinland.
