Im Bad, in der Küche, bei Kaffee-, Wasch- und Spülmaschine. Unser Leben ist wohl durchwässert. Einmal den Hahn gedreht – und es fließt: sauber, klar, je nach Wunsch kühl oder warm. Wasser – es ist allgegenwärtig, selbstverständlich verfügbar. Etwa 125 Liter verbraucht eine Person pro Tag im Alltag. Rechnet man den indirekten Verbrauch für die Produktion von Kleidung, Essen und anderen Gütern hinzu, kommt man auf über 7.000 Liter, jeden Tag.Wasser. Wir trinken es – still, medium, spritzig. Vergleichen Mineralien, Herkunft, Härte, Nachhaltigkeit. „Möchten Sie die Wasserkarte vor dem Essen?“ Das Flüssige ist für uns zu einer Frage von Wahl und Stil geworden – fast der Moral. Und während wir uns zwischen verschiedenen Designer-Sprudeln entscheiden, tragen anderswo Millionen Menschen Eimer und Kanister über staubige Wege. Nicht, um zu wählen, sondern um zu überleben. Jeder vierte Mensch auf der Welt hat keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser, geschweige denn für Wasserhygiene.
Es sind vor allem Frauen und Kinder, die täglich Stunde um Stunde kilometerweit gehen, um an einen Brunnen zu gelangen. Und wenn eine Quelle endet, verendet Leben. Die Ungleichheit der Welt zeigt sich vielleicht nirgends so deutlich wie beim Zugang zu Wasser. Die Klimakatastrophe verschärft das alles noch: Niederschläge werden weniger bzw. extremer. Die Wüstenbildung nimmt zu. Flüsse und ganze Seen trocknen einfach aus. Gletscher ziehen sich zurück, Meeresspiegel steigen, Salzwasser tritt in küstennahes Grundwasser ein. Was jahrtausendelang ein Kreislauf war, wird brüchig oder versiegt. Konkret heißt das: Für die Frauen und Kinder, die jeden Tag trinkbares Wasser holen müssen, werden Wege weiter, gefährlicher und die nötige Zeit für Bildung, Arbeit, Gemeinschaft geht verloren.
In Joh 4 wird eine Geschichte erzählt, die uns mit an einen Brunnen nimmt. Hinein in die Situation einer Wasser holenden Frau. Wie weit ihr Weg war, wissen wir nicht. Aber das Setting zeigt, dass etwas an der Situation nicht stimmt, dass etwas besonders ist. Wir begegnen der Frau zur sechsten Stunde am Brunnen, gerechnet von 6 Uhr morgens. Nicht am Morgen, nicht am Abend, wenn der Brunnen zum sozialen Treffpunkt des Dorfes wird. Sondern in der Mittagsglut, wenn es keinen Schatten gibt.
Sie ist allein. Und will es wohl auch sein. Ihre Geschichte – fünf Männer, der sechste nicht ihr Ehemann – macht sie zur Außenseiterin. In einer patriarchalen Welt, wo die Männer weder Wasser holen noch die Verantwortung tragen, wenn es um die Beziehung zu Frauen geht.
Und dort am Brunnen sitzt Jesus. Ebenfalls allein, müde, durstig. Mitten in Samaria – im religiös aufgeladenen Grenzgebiet. Er bittet die Frau: „Gib mir zu trinken.“ Eine simple Bitte, um ein urmenschliches Bedürfnis zu stillen: Durst. „Gib mir zu trinken.“ Zugleich ist es eine unerhörte Bitte. Hier, im Grenzgebiet, in der Mittagssonne, am Brunnen überschreitet Jesus gleich zwei Grenzen. Zum einen gehört es sich nicht, dass ein Rabbi in der Öffentlichkeit eine Frau anspricht. Zum anderen ist das religiöse Verhältnis zwischen Juden und Samaritanern gelinde gesagt schwierig. So beginnt eines jener eigenwillig schrägen Gespräche im Johannes-Evangelium, in denen das Missverstehen zum Motor tiefer Erkenntnis wird. „Bitte, missverstehen Sie mich richtig!“
Jesus, der erst um Wasser bittet, bietet im Verlauf des Gesprächs selbst Wasser an: lebendiges Wasser. Wasser, das einen nie mehr dürsten lässt. Das einen selbst zur Quelle macht. Die Frau ist zurecht irritiert und erinnert Jesus daran, dass er nichts hat, um Wasser zu schöpfen. Insgesamt sechsmal geht es hin und her zwischen den beiden. Er spricht in Bildern, sie bleibt im wörtlichen Sinn gefangen. Doch gemeinsam kommen sie weiter. Johannes liebt diese produktiven Missverständnisse, weil sie uns, die Hörer- und Leserinnen, in die Mit-Verantwortung nimmt. Hinein in einen tieferen Erkenntnisprozess. „Bitte, missverstehen Sie mich richtig!“
Niemand versteht Jesus auf Anhieb: Nicht der theologisch gelehrte Nikodemus nachts im Gespräch. Nicht die befreundete Martha, als es um ihren verstorbenen Bruder geht. Nicht seine Jünger. Auch nicht die Frau hier am Brunnen bei der einfachen Frage nach Wasser. Erst im Nach-Denken, im Noch-einmal-Hören, kommt – so Gott will – ein tieferer Sinn in den Blick. So wird das Missverstehen zum ersten Erkenntnisschritt: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Und lerne, dass es hier um eine andere, tiefere Wahrheit geht. Um eine Beziehungswahrheit. Weil der Schöpfer allen Lebens, des Wassers im Himmel und auf Erden und unter der Erde, in diesem durstigen Menschen begegnet.
Jesu Worte sind fremd, irritierend, überfordernd, bevor sie sich uns – so Gott will – erschließen. Weil sie von einer Wahrheit sprechen, die quer zu unserer Erfahrung steht und unser begrenztes Verstehen übersteigt.
– Von einem Wasser, das all meinen Durst, meine Sehnsucht stillt, meine innere Wüste erfüllt.
– Von einem Lebenswasser, das mich durchströmt und selbst zur Quelle werden lässt.
– Von der Beziehung zu Gott als Quelle allen Lebens, die sich mir in diesem einen Menschen Jesus Christus erschließt.
In der bildreichen Sprache der Bibel ist immer wieder von dem tiefen Lebensdurst die Rede. Besonders in den Gebeten in den Psalmen. Etwa als Klage – in Zeiten, wenn das eigene Leben nur noch dürr ist wie eine Wüste. „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir“ (Ps 42,2). Oder als Lob – in Zeiten, wenn das eigene Leben blüht und sprießt. „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht“ (Ps 36,10). Das kennen wir auch in unserer Alltagssprache: Wir sprechen vom „Durst nach Gerechtigkeit“, vom „Hunger nach Leben“, davon, wie Menschen dürsten nach Gemeinschaft, Liebe, Sinn, Hoffnung.
Am Anfang des Advents ist die 67. Aktion von Brot für die Welt eröffnet worden, in der es zentral um Wasser und Durst geht. Ihr Motto: „Kraft fürs Leben schöpfen.“ Da kommen beide Dimensionen zusammen: die körperlich-physische und die bildhaft-geistliche. Wir müssen vom Durst nach Gerechtigkeit, nach Frieden, Leben, Zukunft sprechen, der für viele Menschen ganz konkret im Durst nach sauberem Wasser erfahrbar wird. Wer von Gott als der „Quelle des Lebens“ spricht, für den ist die Wasserkrise dieser Welt auch eine theologische Herausforderung. Wer an Christus als das „lebendige Wasser“ glaubt, der kann den Mangel an sauberem Wasser nicht als bloße Naturkatastrophe sehen. Wer den Heiligen Geist als Quelle lebendigen Wassers in sich spürt, dem kann das Leiden von zwei Milliarden Menschen auf diesem Planeten nicht egal sein. Das alles sind Symptome menschlicher Verantwortungslosigkeit und des Versagens. Gott hat die Quelle geschaffen – wir als Menschen haben sie ausgetrocknet, vermüllt, vergiftet. Physischer und spiritueller Durst zusammen. Es wäre Heuchelei, nur vom „lebendigen Wasser“ zu predigen und die leeren Kanister der Welt zu übersehen. Gottes Heil zielt immer auf beides: auf den Leib und auf die Seele.
Die Aktion Brot für die Welt am Anfang des Advents erinnert uns daran, dass die Suche nach dem lebendigen Wasser eine geistliche und zugleich auch eine politische, ökologische, soziale Aufgabe ist. Wer an die Quelle des Lebens glaubt, muss die Brunnen dieser Welt schützen. Und als Christinnen und Christen ist es unsere Aufgabe, wie Christus an die Brunnen zu gehen. In das Grenzgebiet – jenseits unserer behüteten Wohlfühlwelten. Zu den Frauen, Kindern, Männern, die auf der Suche nach Wasser sind – und nach Anerkennung, Gerechtigkeit und Gemeinschaft. Im Advent erwarten und feiern wir, dass Gott als Mensch zu uns kommt – und dass wir als Menschen zu anderen kommen.
Unsere Aufgabe ist es, Grenzen zu überwinden, weil die Quelle des Lebens in uns auch keine Grenzen kennt. Die Liebe Gottes in uns ist eben wie sprudelnder Bach, der hinaus will. Wie ein Quellwasser, das wir nicht für uns behalten können, sondern das geteilt werden will. Eine Quelle lebendigen Wasser, die sich nicht verliert, sondern zu der es gehört, dass wir sie teilen.
Am Ende der Geschichte fallen zwei Dinge auf: Zum einen wird die Frau das ganze Dorf zu Jesus führen, weil sie ihn als Christus, als Gesalbten Gottes erkannt hat. Sie bricht aus ihrer Isolation, ihrer Schuld, ihrer verdorrten Existenz aus. Sie wird selbst zu einer Quelle des Lebens für andere. Zum anderen hat Jesus am Ende der Geschichte noch immer nicht getrunken. Das ist schade – und nicht gesund. Ich glaube aber, das ist eine bewusste erzählerische Lücke. „Gib mir zu trinken.“ Die offene Bitte richtet sich an uns. Wir geben Christus zu trinken, indem wir unseren Nächsten das Wasser reichen. In ihnen helfen wir Christus.
Es ist Advent. Schenke Gott, dass wir uns wie die samaritanische Frau von Gottes Geist bewegen lassen. Und der Friede Gottes, der durchströme unser Denken, Fühlen, Handeln und lasse uns selbst zu einer Quelle des Friedens werden.
Theologische Impulse (187) von Präses Dr. Thorsten Latzel
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